Im Jahr 1857 machten Forscher auf dem Palatin in Rom eine faszinierende Entdeckung. Nachdem der Trümmerschutt eines alten römischen Internats entfernt worden war, fanden sie eine antike Wandkritzelei, die sich bald als ein bedeutendes frühchristliches Zeugnis herausstellen sollte. Das Kreuz war mit einem Nagel oder einem Messer in den Wandverputz eingeritzt. Ein Junge erhebt grüßend, betend seine Hand zum Kreuz hin. Am Kreuz hängt ein Mann. Sein Kopf allerdings ist ein Eselskopf! Darunter ist in ungelenken Buchstaben auf griechisch zu lesen: ‚Alexamenos sebete theon‘ – „Alexamenos verehrt (seinen) Gott“.
Das Graffito ist als Spott-Kruzifix in die Geschichte eingegangen. Eine Karikatur, die vermutlich um das Jahr 125 nach Christi Geburt entstanden ist. Damit ist dieses Bild eine der frühesten Bilder des Kreuzes. Und es stellt bis heute eine zentrale Frage: Worum geht es eigentlich an Karfreitag und Ostern?
Die Christenheit gedenkt des Sterbens und Leidens Jesu. Der Weg des Jesus von Nazareth ist eine bewegende Geschichte. Er wird in einem erbärmlichen Stall geboren. Kaum auf der Welt, macht ihn der Tyrann Herodes zum Flüchtling. Kein Ort, wo er zur Ruhekommen kann. Angriffe, Anfeindung und Morddrohungen begleiten seineWirksamkeit. Dann das Ende: Verhaftung, Auspeitschung, Kreuzigung. Einqualvoller Tod am Kreuz neben Schwerverbrechern. Und über allem steht der Satz:‚Wer mich sieht, der sieht Gott, den Vater‘ (vgl. Joh 14,9).
Wenn an diesem Satz etwas dran ist, dann wird hier Gott selbst in eine unvorstellbare Leidensgeschichte verwickelt. Gott bleibt nicht distanzierter Zuschauer des menschlichen Leids. Er lässt sich selbst in letzter Konsequenz auf unser Leiden ein. Das Gesicht des Gekreuzigten - ein Leidensgesicht unter vielen. Und doch ist es ein besonderes Gesicht. Denn in diesem Gesicht sieht Gott selbst uns an.Bei Gott gibt es keine theoretische Antwort auf die Frage nach dem Leiden. Er stellt sich an unsere Seite. Er teilt unser Elend. Er ist in den Krisenherden dieser Zeit nah. Er ist dort, wo gelitten wird. Keine Qual der Welt, die er nicht kennt. Keine Träne, die er nicht auch weint. Keine Todesangst, die er nicht durchgemacht hat. Kein Schmerz, von dem er unberührt bleibt. ImGekreuzigten wird die Verbundenheit des Himmels mit den Leidenden der Weltgreifbar.
Karfreitag mutet uns sehr viel zu. Der Tod Jesu führte seine engsten Freunde in eine fastunerträgliche Stille. Erst in den frühen Morgenstunden des Sonntags löste sich diese Spannung auf. Mit der Auferstehung Jesu begann eine neue Zeitrechnung. Die eingeschüchterten Freunde Jesu begannen voller Begeisterung zu berichten, was sie erlebt haben: Tod und Elend haben nicht das letzte Wort. Ostern erinnert uns jedes Jahr neu an die Schöpferkraft Gottes, die alles andere übersteigt.
So scheint es übrigens auch Alexamenos gesehen zu haben. In einem benachbarten Raum auf dem Palatin wurde ein zweites Graffito entdeckt. Dort ist auf Latein zu lesen: „Alexamenosfidelis“ - „Alexamenos ist treu“. An Ostern feiern wir die Treue Gottes zu uns.Er hat den Tod überwunden. Lassen wir uns davon begeistern?
Markus Weimer (Dekan des Ev. Kirchenbezirks Konstanz)